Eine namenlose Frau salbt im Haus eines Aussätzigen den Kopf von Jesus mit kostbarem Nardenöl. Von dieser prophetischen Handlung erzählt der Predigttext für Palmsonntag aus dem 14. Kapitel des Markusevangeliums. So wie der Prophet Samuel tausend Jahre zuvor den Hirtenjungen David zum König salbte, so tut es die Frau mit Jesus.
Wie überaus kostbar das Öl ist, mit dem sie ihn salbt, das wird durch den Vorwurf der anwesenden Männer deutlich: Mehr als 300 silberne Denare hätten man dafür erlösen können, das Jahreseinkommen eines Tagelöhners. An den Hängen des Himalaya wächst die Narde bis auf 5.500 Meter Höhe, sie dient zur Zubereitung kostbarer Öle und Salben und wurde schon in der Antike von dort aus bis in den Mittelmeerraum exportiert.
Eine verschwenderische Wohltat! Musste das sein? Hätte man das Geld nicht besser einsetzen können? Energisch tritt Jesus dem Vorwurf der Verschwendung entgegen: „Ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun.“ Er scheint etwas dagegen zu haben, wenn man verschwenderische Wohltaten gegen Armenfürsorge ausspielt. Beides hat sein Recht: Armenfürsorge immer, die Wohltat zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Diese prophetische Symbolhandlung steht im Markusevangelium parallel zum Einzug Jesu in Jerusalem. Durch seinen Einzug zeigt Jesus, dass er der verheißene Friedenskönig ist – durch die Salbung zeigt die namenlose Frau, dass Jesus zum König bestimmt ist.
Aber es ist mehr als nur eine symbolische Handlung, sie bewirkt auch real etwas. Nach der Salbung wird Jesus stark geduftet haben, und dieser Duft wird ihn durch die Woche in seinen Tod begleitet haben. Wer ihm in dieser Woche begegnet ist, der wird auch seinen außergewöhnlichen Duft wahrgenommen haben. Alle Beschimpfungen und Beleidigungen, alle Erniedrigungen und selbst die Kreuzigung werden diesen Duft nicht von ihm nehmen können.
Wo berührt sich diese Geschichte nun mit unserer Lebenswirklichkeit?
Jesus hat sogar das kostbarste, was einer geben kann, eingesetzt: sein eigenes Leben. Er besucht einen Aussätzigen – Aussätzige galten als ansteckend und mussten eigentlich strenge Quarantäne halten – in seinem Haus und wird bald sogar sein Leben am Kreuz dahingeben. Die namenlose Frau gibt zu seinem Leiden und Sterben das überaus kostbare Nardenöl dazu und tut damit an Jesus das, was sie für richtig hält; auch wenn es sie ein kleines Vermögen kostet und Anstoß erregt.
Wo immer auf der Welt in diesen Tagen Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger – womöglich auch noch ohne ausreichende Schutzkleidung – mit erkrankten Menschen umgehen, um ihnen in ihrer Not zu helfen, da riskieren sie ihre Gesundheit. Die Bilder und Meldungen, die aus den USA oder anderen stark betroffenen Ländern um die Welt gehen, verbreiten Angst und Schrecken, sodass es bei aller Routine Überwindung kosten wird. Das verdient nicht nur Respekt, sondern auch angemessene Honorierung. Die menschliche Bereitschaft anderen zu helfen und dabei an die Grenzen der eigenen Kräfte zu gehen um für andere da zu sein, darf nicht auch noch ausgebeutet werden.
Wir alle können uns aber fragen: Was hält mich eigentlich davon ab, meinem Nächsten oder meiner Nächsten einmal unvermutet und „unverhältnismäßig“ Gutes zu tun? Das Stirnrunzeln von missgünstigen Beobachtern? Die namenlose Frau jedenfalls hat die letzte Gelegenheit, Jesus etwas Gutes zu tun, beherzt ergriffen.
Andreas Riekeberg, Pfarrer im Pfarrverband Maria von Magdala in Wolfenbüttel und Sickte